Der erste Winter neigt sich dem Ende zu
Escobar’s Herde besteht, wie zu Beginn des Winters, aus zehn jungen Hengsten und einem älteren Wallach. Alle sind gut durch den Winter gekommen und es herrscht entspannte Gelassenheit. Alle Pferde kennen und vertrauen sich. Direkt neben dem Bereich der Junghengste spielte sich das Leben auf dem Hof ab. Die jungen Hengste haben erlebt, wie die Führmaschine lief, wie Pferde verladen wurden und wie Autos, Trecker kamen und wieder fuhren. Sie haben in den eingestreuten Ställen der Scheune zusammen geschlafen, sie haben auf dem Sandplatz gespielt und als die ersten Sonnenstrahlen herauskamen, auch zusammen in der Sonne gelegen. Ich glaube Jährlinge können im ersten Winter in menschlicher Obhut nicht glücklicher aufwachsen.
Nun aber ist der Sommer da – die Weidezeit beginnt
Die Litzen, die den ganzen Winter am Sandplatz geschlossen waren, werden plötzlich geöffnet. Ein schmaler Gang ist offen. Zaghaft, erst der eine, dann der andere und schließlich traut sich die Gruppe gemeinsam in den Gang. Geschlossen traben und dann, die Wiese vor Augen, galoppieren sie hinaus. Vertraut und ohne viel Alarm umkreisen sie zusammen die Weide. Schon nach wenigen Minuten sind sie alle angekommen. Die Köpfe gehen nach unten, das junge Gras wird getestet und das erste Pferd wälzt sich aus purer Lebensfreude.
Keinen Pferdebesitzer lässt es unberührt, wenn die Pferde den ersten Tag auf die Weide dürfen. Es ist dieses Gefühl, wenn das Glück der Pferde auf uns Menschen überspringt.
Sie sind nun alle ein Jahr alt und es dauert nicht lange und der erste wird verkauft. Das Leben unserer Pferde ändert sich. Nach und nach verlassen einzelne Pferde die Gruppe, ob verkauft, kastriert, operiert, oder alles in einem – die Herde schrumpft zusammen. Freundschaften gehen verloren, Strukturen müssen sich neu finden.
Es ist wie bei den elf kleinen Negerlein: am Ende waren es nur noch acht.
Im Spätherbst: die Neuen sind da
Ende Oktober stehe ich am Weidezaun und erblicke zwischen den „Großen“, vier kleine Junghengste. Gerade erst von ihren Müttern getrennt, stehen sie mir unsicher gegenüber. Mein Herz schmilzt dahin, Fohlen sind einfach rührend, erst recht wenn sie so verunsichert daherkommen. Unwillkürlich setzt mein Beschützerinstinkt ein. Ich bin nicht so „gefühlsduselig“, aber sind die süß… .
Vivien und ich hatten uns darüber unterhalten, ob man Junghengste aus verschiedenen Jahrgängen mischen kann, oder nicht. Alle behaupten immer es ginge nicht, aber ist das wirklich so? Im Moment auf der Wiese scheint es problemlos zu funktionieren. Die Kleinen wuseln zwischen den Großen herum.
Die Zaunpfähle an dem Gang, zwischen Sandplatz und Weide, hat Vivien einzelnd mit Eimern versehen. Staunend stehe ich davor und kann es nicht glauben, was ich vermute. Ich betrachte die Konstruktion. Für jeden einzelnen Eimer zugeordnet, kann der Gang mit jeweils zwei Litzen wie eine Box abgetrennt werden. Füttert Vivien tatsächlich auf diese Art und Weise jedes Jungpferd einzelnd? Und wie bekommt sie die Truppe ohne Theater in die zugehörigen Absperrungen? Sie schickt mir Fotos und behauptet, sie macht das jeden Tag so und die Pferde würden das problemlos machen.
Der Sommer ist zu Ende
Der Gang ist zu, die Herde ist wieder begrenzt auf die beiden Laufställe, die Betonfläche mit den Heuraufen und dem Sandplatz. Vivien ruft mich an und erzählt mir, dass sie einen der Jährlinge mit Kolik in die Klinik hat fahren müssen. Ein zweiter Jährling, derselben Besitzerin ist ebenfalls abgeholt und fungiert jetzt Zuhause als Gesellschaft für den Kranken.
Die elf kleinen Negerlein und da waren es nur noch sechs.
Vivien ruft mich an und erzählt mir, dass ausgerechnet Escobar, den wir immer als ausgeglichen und sozial eingeschätzt hatten, die Fohlen auf der Betonfläche so gejagt hätte, dass sie die Gruppen hat trennen müssen.
Das Projekt, die Junghenste altersmäßig zu mischen, ist gerade gescheitert. Ich bin traurig darüber, hatte ich doch ernsthaft geglaubt es würde gehen.
Ich empfehle Vivien, Escobar das Kraftfutter zu reduzieren. Vielleicht ist zu viel Power und das zunehmende Testosteron des Zweijährigen die Ursache für sein Verhalten. Ich fahre am Wochenende hin und schaue von außen den verbliebenen sechs Zweijährigen beim Spielen zu.
Die Stimmung ist eine andere
Die Dynamic in der kleinen Gruppe ist anders. Ständig provoziert einer der Junghengste. Das rauhe Spiel von jungen Halbstarken prägt das Bild. Escobar wirkt auf mich, als wenn er gar keine Lust dazu hat. Er weicht dem Ganzen aus, bleibt eher alleine, scheint aber deutlich mehr Autorität den anderen gegenüber zu besitzen. Er braucht nur die Ohren anzulegen oder mit den Hinterbeinen zu drohen, dann weichen ihm die anderen aus. Mir gegenüber verhält er sich nach wie vor freundlich und respektvoll.
Auf dem Heimweg denke ich darüber nach. Würde hier ein älterer Wallach, so wie es im ersten Winter in der Gruppe der Fall war, den Jungen mehr Ruhe und Sicherheit geben?
Ist Escobar mit der Situation überfordert?
Meint er plötzlich die Gruppe regeln zu müssen und weiß aber nicht wie?
Wir können unsere Pferde nicht vor Veränderungen schützen
Vivien und ich sind uns einig, dass hier eine andere Dynamic entstanden ist. Gerne hätte wir es mit einem älteren Wallach ausprobiert. Aber Vivien hat keinen und ich kann nicht einfach ein Pferd zum Ausprobieren dafür kaufen. Also bleiben die Altersgruppen getrennt. Bei meinem nächsten Besuch hat Vivien die Heuraufe an eine Wand geschoben. Alle sechs Zweijährigen kommen gemeinsam an das Heu, aber die Rotation am Fressplatz hörte auf. In den nächsten Wochen wird es deutlich ruhiger.
Am Ende des 2. Winters sieht Escobar’s Welt wieder anders aus
Mitte März komme ich auf den Hof und alle Hengste liegen in der Sonne und schlafen, auch die vier Jungen. Beide Gruppen sind nach wie vor getrennt, aber Vivien hat die Sandfläche so stark vergrößert, dass nun alle gleichzeitig Platz zum Liegen und Spielen haben. Die Heuraufe steht an einer neuen Stelle, so dass sie von den Jährlingen und Zweijährigen gemeinsam genutzt werden kann.
Escobar wirkt total entspannt. Ich halftere ihn auf und hole ihn zum Putzen aus der Gruppe. Er hat viele neue Schrammen und Bißstellen, aber einer seiner alten Freunde ist nach einem OP in die Gruppe zurückgekehrt. Während ich ihn putze, fasse ich zu seinen Hoden und bin völlig überrascht. Beide Hoden sind vollständig abgestiegen und weisen eine gänseeigroße, feste, pralle Konsistenz auf. Sie fühlen sich so perfekt an, wie sie von einem dreijährigen Hengst zum Zeitpunkt des Deckeinsatzes gewünscht werden.
Zurück in der Gruppe beobachte ich ihn. Er steht zufrieden inmitten seiner Gruppe, allerdings wenn ein anderer Zweijähriger Kot abgesetzt hat, geht Escobar hin und äppelt daneben. Anscheinend ist hier in den letzten Wochen viel geschehen – Hormone können anstrengend sein, auch für die Pferde.
Die letzten Monate haben Escobar verändert. Aber er ist erwachsener geworden und ich empfinde dieses Escobar-Projekt spannender denn je zuvor. Was sind Pferde nur für großartige Wesen.
In menschlicher Obhut sind Pferde immer Veränderungen ausgesetzt, wir können unsere Pferde auch nicht davor bewahren. Aber wir sollten uns bewusst sein, dass Pferde enge Freundschaften eingehen und auch darunter leiden, wenn diese auseinander gerissen werden. Vielleicht gibt das auch dem einen oder anderen zu denken, wenn er mit seinem Pferd zum zigsten Mal den Stall wechselt, weil die „Leute dort so blöd waren“.
Eine Stallbetreiberin hat schon vor Jahren zu mir gesagt: „Wenn die Pferde alle vier Jahreszeiten in meinem Stall erlebt haben, dann sind sie angekommen.“
Vielleicht sollten wir alle einmal wieder darüber nachdenken.