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21 Können Pferde sich langweilen? (Escobar im Winter Übergang 3/4 jährig)

Anfang September beschäftigte mich genau diese Frage. Escobar war den ganzen Sommer über mit seinem Freund Cro auf der Weide. Zwischendurch durchwanderten Jeny und ich mit ihm die umliegenden Dörfer, Wälder und Felder an der Hand. So sehr ich Lust hatte zu Reiten, so sehr hatte ich mir vorgenommen mich bis zum Winter nicht mehr drauf zu setzen. Inzwischen kannten wir jede Art von Bagger, Trecker, klappernde Anhänger, Baumfällarbeiten im Wald, braune Kühe, schwarze-bunte Kühe … kurz gesagt es wurde langweilig.

Ich persönlich hatte nie Zeit mich zu langweilen – also was ist eigentlich Langeweile und können Pferde sich langweilen?

Der Naturwissenschaftler und Philosoph Blaise Pascal schrieb dazu:

„Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenden Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele die Fadesse aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung.“

Gut, ich glaube jetzt nicht, dass Pferde sich Gedanken über Ihre Unzulänglichkeit machen, aber Tristesse, Kummer in Folge von mangelnder Beschäftigung und Zerstreuung kenne ich von Boxenpferden genauso, wie bei Weide- und Offenstallpferden. Und Pferde, die auf ihre Menschen warten, damit endlich etwas geschieht, sehe in meiner Praxis täglich. Pferde stehen sich heute kaputt, das wissen wir alle – und dabei ist es egal wo sie stehen.

Aber zurück zu Escobar, nach vier Monaten Weidezeit, hatte ich das Gefühl er brauchte neue Ideen. Also rief ich Anthony Harris an.

Tony Harris

Der inzwischen 84 jährige gebürtige Engländer, startete seine Reiterlaufbahn als Jockey auf der Rennbahn. Mit der britischen Armee, bei der Tony Harris auch seine Reitlehrerprüfung ablegte, gelangte er vor über 50 Jahren nach Deutschland, heiratete und blieb.

Viele Pferde und Reiter brachte er in den großen Sport. Für mich war zwar sein Name ein Begriff, aber erst eine Vielseitigkeit begeisterte Kundin, brachte mich auf die Idee. Sie zeigte mir Fotos von Ihrer jungen Stute, die an der Hand, neben ihrer Besitzerin am Boden, Vielseitigkeitssprünge sprang.

Was würde mein Pferd dazu sagen?

Mitte September machte ich mich mit meinem Pferd auf den Weg nach Issum am Niederrhein.

Auf der kleinen Anlage von Tony Harris kletterte mein Pferd mit mir in die Abgründe des Pulvermann’s Grab, sprang Treppen rauf und runter, über kleine und breitere Gräben und folgte mir sogar über einen Trakehner Graben, ohne auch nur einmal zu zögern. Ich selbst kam dabei nicht nur einmal an meine eigenen körperlichen Grenzen, zumal mich immer wieder die Angst einholte, wenn mein Pferd vor allem an den Tiefsprüngen mit Baumstamm, gefühlt zwei Meter über mir angeflogen kam.   

Tony Harris ließen meine Bedenken jedoch vollkommen kalt: „Angst hat den Sinn, dass einem nichts passiert. Du musst deine Angst kanalisieren und zu deinem Vorteil nutzen. Konzentrier dich, führe dein Pferd auf armlänge Abstand korrekt neben dir – mach es nochmal.“

Ebenso teilte er mir mit klaren Worten mit, dass mein Pferd „beschissen“ erzogen wäre. Ein Pferd muss ständig in einer Armlänge den Abstand zum Menschen halten und es muss zu jedem Zeitpunkt sofort Anhalten und sich nach rechts wenden lassen. – Okay, das gelang mir in der Tat nicht in jeder Lebenslage … Trotzdem war ich unfassbar begeistert, nie im Leben hätte ich es für möglich gehalten, was mein Pferd in diesen zwei Tagen, so vollkommen lässig neben mir, mit Halfter und Longe, alles gesprungen ist – und dass mit glänzenden Augen und unendlich viel Spaß. Leider waren Anthony und ich alleine, sodass es nicht ein einziges Foto, oder ein Video davon gibt. So blieb mir anschließend nur die Möglichkeit all die Sprünge zu filmen, die er so lässig gesprungen ist, nur um es am nächsten Tag selbst noch glauben zu können.

Am Sonntagmorgen wühlte Tony herum und meinte wir müssten etwas bauen. Zwei Stunden später hatten wir Pfähle gesetzt, Latten gesägt und angeschraubt und so den Eingang in den Teich begrenzt. Zumindest glaubte mir Tony, dass Escobar Angst vor Wasser hat. Die Stunden, die Eva Eikenkötter mit ihrem Pferd in den Teich geritten und dort gestanden hat, damit Escobar nicht alleine mit seiner Angst fertig werden musste, waren endlos. Ich selbst war am Ende meiner Kraft, als Escobar endlich mindestens zwei Meter über mir in den Teich sprang. Nach zig spektakulären Widerholungen, ging er endlich mit mir ruhigen Schrittes in den Teich. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass dieses Wochenende ihm am Ende doch noch Spaß gemacht hat. Aber er fraß vor unserer Abfahrt glücklich und zufrieden sein Futter in der Box auf dem Hof und schaute uns beim späten Frühstück zu – bei der Abfahrt wieherte er laut und trat die ersten Kilometer immer wieder wütend gegen seine Hängerklappe, bis er endlich Ruhe gab. Ich hatte den Eindruck, er wäre gerne noch länger dort geblieben.

Wir fangen wieder an

Mitte Oktober saß ich dann das erste Mal wieder auf meinem Pferd. Nun hatten wir alle Zeit der Welt und ich wollte gerne, nach dem ganzen Körungstheater, noch einmal mit der reiterlichen Ausbildung ganz von vorne anfangen.

Wir „schleichen“ durchs Gelände.

Escobar marschierte im Schritt vom Stall los und schon nach wenigen Metern hatte ich das Gefühl er hätte gar keinen Schritt mehr. Wir eierten durch den Ort neben dem Stall, dann ging es bergab in den Wald und auf dem Weg bergauf zurück, hatte ich mehrfach das Gefühl absteigen und ihn tragen zu müssen.

Ist uns eigentlich bewusst, wie wenig Tragkraft und Balance unsere jungen Pferde haben, wenn wir anfangen uns auf ihren Rücken zu setzen?

Ich hatte seine Hafer und Maisflocken Rationen am Tag deutlich erhöht und jeden 2./3. Tag ritt ich die kleine Waldrunde. Nach ca. 4 Wochen, begann Escobar mir auch schon mal in kindlichem Übermut den Trab anzubieten. Über den Rücken trabend, mit der Kraft aus der Hinterhand, war allerdings immer schnell Schluss mit seiner Kraft und Kondition. Aber dann was für ein Traum Gefühl, als er es Ende Dezember schaffte den gesamten Berg bis oben durch zu traben. Mit erhobenem Kopf stolzierte er zurück durchs Dorf.

Ab jetzt vollzog Escobar die erste Veränderung, er entwickelte Ehrgeiz und wollte mir nun beweisen, welche Anstiege er nun alle schon hochtraben und später dann auch hochgaloppieren konnte. Manchmal ärgerte es ihn maßlos, dass ich immer darauf bestand, dass er nur traben und galoppieren durfte, wenn er dies wirklich über den Rücken, mit fallengelassenem Hals tat, aber mit viel Lob spielte er mein Spiel im Gelände weitgehend brav mit.

In der Halle und auf dem großen Springplatz empfand ich es als deutlich schwieriger, weil mir immer noch der „Zug“ im Pferd fehlte. Ich bat Bernd Flücken, der in unseren Stall ab und zu Springunterricht gab, um Hilfe.

Er half mir sehr. Ich habe schon wirklich viele, auch namenhafte, Reitlehrer in meinem Leben erlebt. Aber Bernd Flücken schafft es, dass Pferd und Reiter sich in seinem Unterricht wohl fühlen und vermittelt einem immer das Gefühl, dass er selbst auch Spaß dabei hat. Wenn ich mir die wenigen Videos vom Anfang des Jahres anschaue, bewundere ich Bernd im Nachhinein noch mehr für sein immenses Einfühlungsvermögen.

Im Frühjahr setzte im Bergischen Land die Regenzeit ein. Überall taten sich im Gelände und auf der Anlage „Seenlandschaften“ auf. Ich nutze die Wasserspiele, um endlich Escobars Angst vor dem Wasser zu besiegen.

Aber dazwischen war auch der Winter …

mit seinen Stürmen, die bei uns ein Teil des Hallendachs weggeweht hatten und mit Schnee und Eis, der jedes Reiten im Gelände unmöglich machte – und mit großer Langeweile.

Unendlich dankbar bin ich Irina Diekmann, dass Escobar und Cro, wann immer das Wetter es zuließ, die Weide am Springplatz nutzen durften. Allerdings meinte mein Pferd mal wieder über den Zaun springen zu müssen. Da der Zaun ihm allerdings wohl zu hoch erschienen, hat er zuerst mit der Schulter den Zaun an dessen schwächster Stelle etwas erniedrigt und ist dann darüber gesprungen. Wieder einmal musste mein Sohn Marc den Zaun reparieren und wieder einmal zog ich Stromlitzen …

Coole Socke …

aber da wir so viel draußen unterwegs gewesen sind, ist Escobar sehr cool geworden. Vielleicht wäre er mit seinem Interesse an Baumaschinen aber auch lieber Ingenieur, als Reitpferd geworden – wer weiß das schon.

Wie geht’s weiter?

Da mir mein Pferd inzwischen so viel Spaß im Gelände und beim Springen macht und ich mich an die Freude erinnert habe, die Escobar bei Tony Harris gezeigt hatte, überlege ich, vielleicht doch noch mal wieder mit dem Buschreiten anzufangen. Dressurpedigree hin- , oder her.

Ich schrieb im Januar Siegfried Blum eine Mail und fragte ihn, ob er mir dabei helfen würde. Siegfried Blum hat seit 2008 eine kleine, aber feine Vielseitigkeitsgemeinde in Königswinter aufgebaut. Seine Anlage umfasst eine Halle und ein ziemlich spektakuläres Gelände, mit vielen Naturhindernissen, zwei Wasser-Teichen und unzähligen transportablen Einzel-Geländehindernissen, die im Winter von ihm auch bei Indoor Trainingsstunden verwendet werden.

Ein paar Mal fuhr ich mit Escobar zum Dressurreiten nach Königswinter. Im Frühjahr schauen wir mal, wie wir die ersten Geländesprünge unter dem Reiter meistern werden. Aber dazu nächstes Mal mehr. Jetzt müssen wir erst mal weiterarbeiten.