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24 Neurologische Ausfälle bei 2 u. 3 jährigen Pferden

– ausgelöst durch Zahnwechsel und Größenwachstum des Kopfes

Kann man ein Hengstfohlen „artgerecht“ aufziehen und 2 ½ jährig „pferdegerecht“ einen Körkandidaten daraus machen? Diese Fragen treiben mich seit nunmehr 15 Jahren um und genau diese Fragen waren der Grund für den Start des Escobar-Projekts  im Jahr 2000.

In vielen Beiträgen auf dieser Internetseite habe ich diese Fragen bereits verneint, oder zumindest deutlich eingeschränkt nur mit Ja beantworten können.

Aber das, was ich als Tierarzt aus medizinischer Sicht im letzten Sommer gesehen und gelernt habe, hat mich mehr als erschreckt.

Aber ich will von vorne anfangen:

Es ist Sommer, Anfang Juli 2024 und ich bin in der Pferdepraxis unterwegs. Die Nachmittagssonne  brennt von einem strahlblauen Himmel und die Temperatur, außerhalb meines klimatisierten Mercedes, hat die 30°C Grenze deutlich überschritten, als mich ein Notruf erreicht. Ein 2 jähriger Hengst ist auf der Weide -laut der Besitzer- auffällig aggressiv, kaum ansprechbar und kaum kontrollierbar. Angeblich kann das Pferd den Hals nicht nach links biegen. Körpertemperatur 38°C.

Ich fasse mich kurz: Das Pferd wurde aufgestallt, mit nassen Handtüchern heruntergekühlt, und erhielt von mir, nach Probenentnahmen eine Dexamethason (Cortison) Injektion. 15 min später war das Pferd klinisch völlig normal, chiropraktisch auch keine Schwierigkeiten mehr mit der Halsbiegung,  ausschließlich der Augenreflex blieb beidseitig noch geringgradig reduziert.

Das große Blut Screening mit allen Entzündungsparametern und Antikörperuntersuchung (IgM u. IgG) auf Meningoenzephalitis (FSME) blieben ohne Befund.

Das Pferd wurde am nächsten Abend wieder auf die Weide, in die gewohnte Herde, zurückgebracht und war für mich auch zwei Tage danach bei der Folgeuntersuchung klinisch unauffällig.

Fünf Tage später erreichte mich, wieder in der Nachmittagshitze, im Auto ein Notruf und gleichzeitig erhielt ich per Whatsapp eine ganze Reihe Video’s, wiederum von dem 2 jährigen Hengst. Die Bilder ließen mich erstarren.

Nach Aufstallung des Pferdes und Prednisolongabe (Cortison) war der 2 jährige Hengst nach 10 min wieder unauffällig. Wer mich kennt, weiß was ich alles unternommen, wie viel ich recherchiert und telefoniert habe. Meine Röntgenuntersuchung des Kopfes und der gesamten Halswirbelsäule auch in 60 ° Aufnahmen der unteren HWS blieben ohne Befund. Meine ganze Liste von Differentialdiagnosen über Parasiteninfektionen (Bandwurmzyste, Neurozystizerkose, Echinokokkose, Coenurose, Schistosoiasis), versprengte Zahnanlage, vestibuläres  Syndrom, Epilepsie bis hin zur Fledermaus-Tollwut, waren sinnlos.

Durch Zufall hatte eine neue Einstellerin, in dem Stall des 2 jährigen Hengstbesitzers, bei ihrer damals 2 1/2 jährigen Quarter Stute ähnliches erlebt.

Ihre inzwischen wieder völlig normale, heute 7 jährige Quarterstute, zeigte als  2 Jährige wiederholt neurologische Auffälligkeiten. Die Videos der Stute von damals und die damals durchgeführten CT Bilder  mit der Befundung  von  der Firma Lucida Diagnsotik, brachten uns endlich auf die richtige Spur:

Leider bat mich die Besitzerin der Quarter Stute ihre Videos nicht zu veröffentlichen. Das muss ich natürlich respektieren. Trotzdem habe ich die Erlaubnis ihren Fall beschreibend in dem Text zu belassen. Damit wird deutlich, dass die Problematik die jungen 2-3 jährigen Pferde betrifft – unabhängig von Geschlecht und Rasse. Dies sollte auch bei der Jung-Pferde Ausbildung in der Quarter Szene berücksichtigt werden.

Wechsel der Milchzähne hin zu den bleibenden Zähnen (2 jährig)

In dem Lebensalter von 2- 2 ½ Jahren wechseln erst die vorderen beiden Backenzähne von den Milchzähnen (504/505)(604/605) im Oberkiefer und  (804/805) (704/705) in Unterkiefer zu den bleibenden Backenzähnen (106/107 – 406/407) im Ober- und Unterkiefer.

Zudem brechen in diesem Alter auch die zweiten bleiben Backenzähne (110 – 410) der hinteren Backenzähne durch, die zuvor noch nicht, auch nicht als Milchzähne in der Maulhöhle vorhanden gewesen sind. Das Größenwachstum des Kopfes und damit auch das Längenwachstum von Ober- und Unterkiefer tritt in seine Hochphase ein. Dieses forcierte Längenwachstum des Kopfes macht den Durchbruch der bleiben Backenzähne im hinteren Bereich der Kiefer überhaupt erst möglich. Zuvor wäre dafür noch gar kein Platz gewesen.

[Die letzten, der drei bleibenden Backenzähne (111 – 411), brechen erst mit ca. 4 ½ Lebensjahren im Ober- und Unterkiefer durch die Schleimhaut. Also zu einem Zeitpunkt, indem das Größen- und Längenwachstum des Kopfes weitgehend abgeschlossen ist. ]

Bevor sich aber die Reste der Milchzähne der Backenzähne lösen können, entwickeln sich die bleibenden Backenzähne unter den Milchzähnen im Ober- und Unterkiefer. Erst durch deren Größenzunahme werden die Milchzähne an ihrer Kaufläche vermehrtem Druck ausgesetzt, dadurch werden sie stärker abgerieben und die Milchzähne werden dünner. Diese Reste der Milchzähne bezeichnet man dann erst als Milchzahnkappen.

Von außen am Kopf sichtbar ist das Größenwachstum der bleibenden Backenzähne bei jungen Pferden an den Unterkieferästen, an den sogenannten „Bumps“ erkennbar. Diese festen, bogenförmigen Verdickungen an den beiden Unterkieferästen, zeigen die Größenwachstums-Aktivität der bleibenden Zähne an. Gleiches geschieht auch im Oberkiefer, hier vollzieht sich aber das Größenwachstum der bleibenden Zähne im Inneren des Kopfes und dies lässt keinen großen Spielraum zu und ist von außen in der Regel auch nicht sichtbar.

„Bumps“, wie sie an den Unterkieferästen nach außen sichtbar sind

Wachstum der bleibenden Backenzähne 107/ 207 im Oberkiefer

Die unzähligen Nerven, die im Kopfbereich direkt vom Gehirn kommend, alle Strukturen versorgen enthalten sowohl sensorische (Fühlen), als auch motorische (Bewegung) Fasern. Einer der Größten Äste ist der Nervus Maxillaris. Dieser natürlich rechts und links am Kopf vorkommende Nerv teilt sich im Bereich der Fossa pterygopalatina in drei Nervenäste auf.  Aus ihm entspringt u.a. der Nervus infraorbitalis. Und der macht diese beiden Fälle so spannend.

Diese Nerven verlaufen rechts und links am Kopf in einem Kanal, der unter der äußerlich sichtbaren Crista facialis (Jochbeinleiste), in der Tiefe verläuft. In dem Bereich, an dem der Nervus infraorbitalis aus seinem Kanal austritt, liegen die Zahnsäckchen an denen die Wurzeln der zweiten bleibenden Backenzähne (107/ 207) beim 2 jährigen Pferd in vollem Wachstum sind. Die noch vorhandenen Milchzahnkronen, bzw. –kappen  (505/605) verhindern das Herausschieben der bleibenden Zähne in die Mundhöhle. Dadurch kann, wie in diesen beiden Fällen, der Nerv eingeengt werden. Was zu deutlichen Nervenschmerzen im Kopfbereich führt.

Escobar im Sommer mit 17 Monaten

Noch ganz am Anfang zweigen von dem N. infraorbitalis kleine Nervenäste ab, die die Wurzeln der hinteren Backenzähne innervieren (Rami alveolaris superiores caudales). Innerhalb des Canals, in dem der Hauptnerv verläuft, gibt er kleine Nervenäste (Rami alveolaris superiores medii) ab, die die Milchzähne und die schon in der Entwicklung befindlichen bleibenden Backenzähne versorgen.

Das  Kopf-CT Bild des 2 Jährigen Hengstes bringt das Problem an den Tag:

Transversalschnitt auf Höhe der Zähne 107/207:

der linke und rechte Canalis infraorbitalis (grüne Pfeile) sind beide im Austrittsbereich des N. infraorbitalis abgeflacht (rechts>links) und teilweise nicht eindeutig von den Zahnsäckchen 107/207 abgrenzbar. Die Milchzahnkronen   (505 und 605) , die das Herausschieben der bleibenden Zähne (107/207) noch verhindern, sind im Oberkiefer des CT-Bildes deutlich zu erkennen.

Sagittalschnitt durch den rechten Oberkiefer des Hengstes:

Der Canalis infraorbitalis ist auf Höhe der Zahnfächer 107 (orange) und 110 (blau) abgeflacht, die umgebene Knochenstruktur ist stellenweise nicht gut vom Zahnsäckchen abgrenzbar.

Auf dem Pferdefoto ist der Kopf von Escobar abgebildet, wie er im identisch gleichen Alter aussah, wie bei dem hier beschriebenen Fall des 2 Jährigen Hengstes. Beeindruckt hat mich der Unterschied zwischen dem Kopf- Foto und dem engen, gedrängten Zustand der Backenzähne im seitlichen CT Bild.

Der Kopf CT der 2 ½  Jährigen Quarterstute:

Hier ist der Transversalschnitt auf Höhe der dritten, bleibenden  Backenzähne (108/ 208) erfolgt. Das heißt diese Stute zeigte die Probleme im Winter 2 ½ -3 jährig, als der dritte der Milchzähne begann zu wechseln. Die Zahnsäckchen der wachsenden Wurzeln der bleibenden Zähne, engten den Kanal des Nervus infraorbitalis etwas weiter hinten ein, als bei dem Hengst im Juli.

Warum war der 2 jährige Hengst in seinen klinischen Symptomen so deutlich schlimmer, als die Stute?

Bei dem Hengst kam zu den Problemen der Einengung des Nervus infraorbitalis an seinem vorderen Bereichen rechts und links noch ein zusätzlicher Druck auf denselben Nerv im hinteren Bereich dazu. Die wachsenden, bleibenden Backenzähne 110 und 210 wuchsen auch. Da der Kopf sich noch im Längenwachstum befand, bietet dort der Gaumenbogen kaum Platz für die Zahnsäckchen. Und auch diese engten den Kanal des Nerven ein.

Bei den heißen Temperaturen, sind alle Gewebe stark durchblutet und schwellen viel stärker an, als in kalten Wintermonaten.

Der Nervus infraorbitalis enthält zwar überwiegend sensorische Fasern (für das Fühlen zuständig), er bildet jedoch ein Nervengeflecht mit den anderen Nerven des großen Nervus maxillaris, die auch viele motorische (Bewegungs-) Fasern enthalten. Die großen Schmerzen, die der Hengst erlitt, erklären auch sein motorisches Abwehrverhalten, mit den Kreisbewegungen, der Aggressivität und dem Ausfall des Pannikulusreflexes (=Abwehr der Fliegen am Kopf durch Hautzucken und Kopfschütteln).

Therapie beider Pferde:

Beide Pferde erhielten über mehrere Wochen Prednisolon.  Dieses Cortison führt über die entzündungshemmende Wirkung zu einem Abschwellen der Myelinscheiden (Umhüllung) der Nervenzellen.

Der Hengst wurde tagsüber aus der Sonnenhitze genommen und damit der Hitze-/ Herden- und Fliegenstress reduziert. Abends spät, wurde er über Nacht wieder zu seinen Freunden gebracht, um morgens wieder reingeholt zu werden.

Bei beiden Pferden hörten die neurologischen Symptome einfach wieder auf.

Aus dem jetzigen Wissen ist erklärbar warum – in dem Moment indem die Milchzahnkappen der wechselnden Backenzähne abgingen, bzw. das Längenwachstum des Kopfes voranschritt, erhielten die bleibenden Zähne Raum in die Maulhöhle vorzuschieben und der Druck auf die Infraorbitalnerven verschwand.

Fazit:

Wäre der 2 Jährige Hengst, wie ursprünglich geplant, verkauft worden und in die Körungsvorbereitung gegangen, ich glaube er hätte es nicht und wenn nur unter unendlichen Qualen überlebt.

Den Aussagen der Kollegen von Lucida Diagnostik zu Folge, die täglich im Auftrag für viele Pferdekliniken CT und MRT Bilder fachlich beurteilen, sind diese beiden Pferde absolut keine Einzelfälle und nicht besonders ungewöhnlich.

Müssen wir wirklich 2jährige für die Körung antrainieren, mit einem Trensengebiss und Ausbindern versehen, während sie gerade genug mit Zahnwechsel und Kopfwachstum zu tun haben?

Ist es mit unserem heutigen medizinischen Wissenstand, was Körperwachstum, Zahnwechsel, Wachstumsfugen, Psyche, Sozialverhalten u.v.a.m. angeht, überhaupt noch vereinbar 2 und junge 3 jährige Pferde in die Arbeit zu nehmen? Müssen wir nicht endlich Verantwortung übernehmen und uns von den alten Traditionen lösen?

Vielen Dank an den Besitzer des Hengstes, der mir uneingeschränkt das Video Material für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat. Der inzwischen kastrierte 3 jährige Warmblüter ist ein wunderschönes, gesundes Pferd und ich freue mich jedes Mal dieses Pferd und seine stolzen Besitzer zu sehen.

Nur wenn wir alle auch den Mut haben solche Fälle zu veröffentlichen, werden wir die Chance haben die Welt für unsere Pferde in Zukunft zu verbessern.