Nur einfach einen 2 jährigen Junghengst aufgezogen zu haben, ist für mich keine Begründung dieses Pferd zur Körung vorzustellen.
Was hat mich also dazu bewogen, dieses Ziel von Beginn an zu verfolgen, abgesehen davon, dass Escobar ein bildschönes Fohlen war?
Pedigree – nur ein Stück Papier als Abstammungsurkunde?
Natürlich steht der einzelne Hengst mit seinem persönlichen In- und Exterieur zum Körungszeitpunkt im Vordergrund. Dabei zählen für mich sein Bewegungsablauf in allen seinen Grundgangarten, seine natürliche Balance und seine Präsenz genauso dazu, wie sein Charakter, seine Leistungsbereitschaft und sein Umgang mit uns Menschen.
Wir brauchen Pferde, die Vertrauen zum Menschen haben und die neugierig darauf sind ständig etwas Neues lernen zu wollen. Vieles ist bereits im Genpool festgelegt. Inzwischen ist es wissenschaftlich bekannt, dass Gene bezüglich der Leistungsfähigkeit eines Hengstes zu 60 % u.a. über die Mitochondrien-Genetik der Mutterstute vererbt werden. Die Mutterstute hat zudem, während der Saugfohlenzeit, einen immensen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Nachkommen (siehe Block 12 Forschung Avanches).
Als Tierärztin betreue und besame ich seit ca. 15 Jahren die Stuten der Familie Neuhaus. Daher kannte ich schon vor dem Kauf von Escobar seine Mutter, Großmutter und Tante sehr gut und schätzte deren grundehrlichen Charakter und deren Leistungsbereitschaft. Dabei hatte ich auch die Worte des ehemaligen Landstallmeisters in Warendorf, Dr. Lehmann, im Ohr: „Vergesst in der Zucht nie die Wichtigkeit der Stutenstämme.“
Erfolgslinien und Stutenstämme
Hinweise auf einen guten Stutenstamm, sind über Generationen immer wiederkehrende Erfolge im Sport, gekörte Hengste, prämierte Stuten und gute Sportpferde. Der alte Hannoveraner Stutenstamm, der sich aus der Harvardlinie erhalten hat, ist ein Schatz, der sich auch in Escobars Pedigree wieder findet. Gleiches gilt für die Stutenlinie der Hillary. Der Veredlerhengst Heraldik XX aus dessen Linie unzählige Sportpferde für den Dressur-, Spring-, Vielseitgkeits- und Fahrsport hervorgegangen sind, ist legendär. Hillary selbst lieferte alleine vier gekörte Söhne. Hochspannend ist auch der Holsteiner Stutenstamm 2472 der Gofine. Diese Stute brachte alleine 17 Nachkommen zur Welt und unzählige Nachkommen waren im internationalen Springsport erfolgreich. Als Hamburgerin las ich in Escobars Pedigree mit Freude den Stutenstamm der Pastorale. Dieser auf den Veredeler Hengst Marlon XX zurückgehende Stamm begründete die ersten gefeierten Dressurnachkommen im Holsteiner Verband. Legendär der viel zu früh, bei einem Verkehrsunfall verunglückte Holsteiner Dressurhengst Marmor.
Über die Stutenlinie der Westfälin Farah Dina L, die alleine vier bis Grand Prix erfolgreiche gekörte Söhne hinterließ, kommt ein interessanter Mix in Escobars Pedigree. Einige Nachkommen dieser Stutenlinie sammelten Schleifen im internationalen Parcour, andere auf den großen Dressurvierecken dieser Welt.
Die Erfolge der Dressurpferdevererber Ehrentusch, Fürst Piccolo, Donnerhall, Rubinstein und Furioso II aus Escobars Pedigree aufzuzählen ist sicher überflüssig. Jeder, der sich mit der deutschen Warmblutzucht beschäftigt kennt diese Vererber. Mit ein Auslöser für den Kauf von Escobar war für mich 2020 eben auch dieses Pedigree. Die Kombination aus überragenden Springpferdevererbern, gepaart mit großartigen Dressurhengsten und legendären Vererdlerhengsten der alten Linien und die durchschlagenden Rittigkeits- und Charaktereigenschaften aller Vertreter, machte für mich den Reiz aus. Reine „Dressurvererber“ miteinander im Pedigree zu vereinen bringt erfahrungsgemäß nicht den gewünschten Erfolg. Sprungkraft aus der Hinterhand, Mut und Leistungsbereitschaft, gepaart mit charakterlich einwandfreiem Auftreten dem Menschen gegenüber, über einen weiten Genpool verteilt,sowie dem Erhalt der alten Linien, ist für mich der Inbegriff von sinnvoller Zucht. (Siehe auch Block 10 – Genetik in der Warmblutzucht).
Was machen für mich Vererberqualitäten aus?
Natürlich muss ein Hengst, den man zur Körung vorstellen möchte, einen guten, möglichst schon taktsicheren Bewegungsablauf in allen seinen drei Grundgangarten liefern. Seine natürliche Balance und seine Präsenz müssen den Betrachter in seinen Bann ziehen. Aber sein Charakter, seine Leistungsbereitschaft und sein Umgang mit uns Menschen, sind für mich mindestens genauso relevant.
Aber wenn wir von Zucht reden, also der gezielten Auswahl von Zuchthengsten, dann ist ein Pedigree mit einem weiten Genpool, mit erhaltenswerten alten, bewährten Linien für mich ebenso wichtig. Das hat für mich etwas mit nachhaltiger Gesunderhaltung der gesamten Pferdezucht zu tun. Deswegen sollten aus meiner Sicht nur WFFS-freie Hengste zur Körung gebracht werden und koppende Hengste nicht mehr zur Körung zugelassen werden. Diese als Untugend definierte Verhaltensweise, ist mit einer genetischen Veranlagung verbunden. Diesen Beweis erbringen unzählige, bereits als Saugfohlen koppende Zuchtprodukte aus der Besamung, deren Mütter nie gekoppt haben, wohl aber deren Väter.
Am 14. August habe ich Escobar nach Hause geholt. Er ist jetzt etwas mehr als 28 Monate alt. Bleibt er also weiterhin gesund und so fröhlich und neugierig, wie zur Zeit, werde ich diesen Weg bis zur Vorauswahl weitergehen. Ich hoffe ich konnte erklären, warum ich ihm Vererberqualitäten zutraue. Alles andere entscheidet sich dann ohnehin damit, wie sich Escobar präsentiert und wie die Körkommission ihn beurteilt. Es bleibt also spannend…