Im Februar begann es schleichend und dann kam es im März mit Macht.
Escobar drehte auf. Seine Hormone spielten verrückt, er griff seine Pferdekollegen auf der Weide an und wurde auch im Umgang erstmals richtig schwierig. Führen war nur mit Hengstkette und Gerte möglich, blitzschnell stand er auf zwei Beinen und reagierte auch dann nur auf eine mehr als deutliche Ansage, auch unter Einsatz der Gerte. Innerhalb weniger Wochen waren beide Hoden gänseei groß; von der Palpation her waren diese gefühlt so prall und derb, als würde man einen vierjährigen Hengst unteruchen, der bereits im Deckeinsatz ist. Das Testosteron flog ihm förmlich um die Ohren.
Da ich aufgrund der Entfernung nur gelegentlich nach Rheda-Wiedenbrück fahren konnte, war ich dankbar, dass Vivien Schauren tiefenentspannt reagierte. Viele Stallbetreiber hätten an diesem Punkt gesagt: „Aufladen-Abholen“.
Vivien aber schlug vor, ihn nachts in die Box zu stellen und ihm morgens, in der Halle an der Hand, ein paar Minuten die Welt zu erklären. Es ging dabei nur um: Führen lassen, Halten, Rückwärts-gehen und Zuhören.
Wenn er dann anschließend 10 Minuten in der Halle Dampf abgelassen hatte, verhielt er sich den Tag über in der Gruppe auf der Weide wieder normal. Dies funktionierte 1-2 Wochen.
Dann entwickelte sich etwas, was wir nicht verstehen konnten: Abends, zu unterschiedlichen Zeiten zwischen 18- 22 Uhr drehte Escobar nach den 2 Wochen wieder ohne erkennbaren Grund auf und ging auf seine Pferdekollegen los. Da es dabei immer gefährlicher für die anderen Pferde wurde, hatte dann auch leider nie jemand Zeit das zu filmen.
Die einzige Lösung schien, Escobar durch mehrreihige Litzen getrennt, neben seine Gruppe auf die Weide zu stellen. Escobar gab Ruhe und schien mit der Lösung zufrieden. Sicherheitshalber ging er, wenn keiner auf der Anlage war, nachts weiterhin in die Box.
Muss man einen 24 Monate alten Junghengst arbeiten, wenn die Hormone kommen?
Gerade, wenn man über pferdegerechte Aufzucht und Körvorbereitung spricht, kommt diese Frage auf. Wir alle wollen den Junghengsten eine artgerechte Aufzucht gewähren, wir wollen das Körungsalter auf mindestens drei, besser dreieinhalb Jahre anheben, damit diese Pferde mehr Zeit haben sich physisch und psychisch zu entwickeln, aber ist das mit allen Hengsten machbar?
Zugegeben, es ist verrückt, dass ausgerechnet mein Hengst so aufdrehte, nicht alle Junghengste tun das.
Ich habe mir diese Frage nicht nur einmal gestellt: Muss ich, entgegen meiner Überzeugungen, Escobar mit 24 Monaten schon nach Hause holen und mit ihm anfangen zu arbeiten?
Ich bin Vivien Schauren sehr dankbar, dass sie im Frühjahr cool und souverän dabei blieb ihn bei sich zu behalten und ebenso wie ich meinte es wäre zu früh. Diese Überzeugung gab uns im Nachhinein recht. Anfang- Mitte Mai legte Escobar plötzlich den Schalter wieder um. Wir blieben dabei ihn nachts in die Box zu stellen und tagsüber neben die anderen auf die Weide. Im Juni traute Vivien sich dann, ihn mit einem 3 ½ jährigen Hengst, den sie zur Ausbildung im Stall hatte vormittags zusammen auf die Wiese zu stellen, was die letzten Monate problemlos funktionierte. Er war im Umgang mit Mensch und Tier plötzlich wieder der Alte – ausgeglichen und freundlich.
Gleichzeitig aber hatte er in den drei Monaten einen riesen Wachstumsschub hingelegt und schoss innerhalb von wenigen Wochen alleine im Stockmaß um 7 cm in die Höhe, wobei er Anfang Juni (mit 26 Monaten) immer noch deutlich überbaut war.
Das Einzeltier vermehrt in den Vordergrund stellen
Hätten wir in dieser Phase Escobar, mit 24 Monaten, angefangen zu longieren, nur weil er hormonell so aufdrehte, hätten wir dem Skelettsystem und dem Band- und Muskelapparat vermutlich massiven Schaden zugefügt. Wir sind überzeugt davon, dass es Escobar geholfen hätte, wenn in der Gruppe ältere Pferde, oder vielleicht sogar tragende Stuten gestanden hätten. Sie hätten, wie in der Natur auch Escobars Probleme vermutlich geregelt. Dies sollte in der Aufzucht von Junghengsten mehr Berücksichtigung finden, wenn wir die Zweijährigen Hengste länger auf der Weide lassen wollen. Und hier ist aus meiner Sicht auch noch viel wissenschaftliche Forschungsarbeit nötig.
Auch müssen wir jedem einzelnen Pferd mehr gerecht werden. Wie in Escobars Fall muss dem Einzeltier und seiner individuellen Entwicklung mehr Beachtung geschenkt werden. Nicht jeder Zweijährige verhält sich gleich, aber in den wenigen Hengstaufzuchten wird dieses Vorgehen, wie wir es gemacht haben, kaum durchführbar sein.
Natürlich hätte ich Escobar mit Medikamenten „runterfahren“ können (siehe Block 11 Doping bei Hengstkörungen). Für mich als Tierarzt wäre es ein Leichtes gewesen, aber zu welchem Preis? Dafür das Escobar psychisch Schaden genommen hätte? Dafür, dass seine körperliche Entwicklung gelitten hätte? Dafür, dass er vielleicht gekört wird, dann aber aufgrund von Libido Störungen und schlechter Samenqualität nicht befruchtungsfähig wäre?
Hier muss mehr passieren, als nur zu fordern den Körungszeitpunkt nach hinten zu schieben. Wir brauchen keine toten und verletzten Junghengste nur weil es „pferdegerechter“ ist, die „Stärkeren“ länger auf der Weide zu lassen, um sie später in die Arbeit zu nehmen. Hier kommt auch wieder die Frage nach der Wirtschaftlichkeit ins Spiel. Wie in so vielen Fällen, wird meiner Meinung nach nur der Weg zur Dezentralisierung möglich sein. Mehrere kleinere Hengstaufzüchter, oder bei großen Aufzuchtbetrieben zumindest mehr Gruppen mit älteren Pferden und mit viel Platz, sowie mit geschultem Personal, die die Hengste monitoren und ggf. individuell eingreifen können.
Jeder der Hengste aufziehen will, ob als Großbetrieb, oder wie ich als Einzelperson, muss sich auch darüber im Klaren sein, dass eine „pferdegerechte Hengstaufzucht“ aufwendig, eventuell auch mal kompliziert und vor allem teuer ist. Ich hätte mich geschämt, hätte ich Vivien diesen immensen Mehraufwand der letzten Monate nicht entsprechend finanziell vergütet. Sie hat mich nicht danach gefragt, für mich war das eine Selbstverständlichkeit.
Die Warmblutzuchtverbände sind gefragt
In den „Leitlinien zum Tierschutz im Pferdesport (12.10.2020)“ wird der früheste Zeitpunkt des Beginns einer zielgerichteten Ausbildung zum vorgesehenen Nutzungszweck für Pferde auf 30 Lebensmonate festgesetzt. (Siehe Block 6 – Deutsche Warmblutzucht ein Paragraphendschungel?)
Alle Zuchtverbände haben für das Jahr 2022 die Körungen erstmalig nach hinten geschoben. Allerdings alle einheitlich um vier-sechs Wochen. Wenn also eine Hauptkörung statt im Oktober nun im November stattfindet und damit die gesetzlich vorgeschriebenen Vorauswahlen vier Wochen davor, wird aus meiner Sicht kein Hengst merklich länger in der Aufzucht bleiben – sie werden nur noch mehr gefordert, weil nun für die Vorbereitung vier Wochen mehr Zeit ist. Im Sinne des Tierschutzes hat sich in diesem Punkt aus meiner Sicht nichts geändert.
(Ausnahme: Hengsttage Deutsches Sportpferd, die bereits vor der Veröffentlichung der neuen Leitlinien ihre Hauptkörungen immer schon Januar durchgeführt haben und dabei auch geblieben sind.)
Also sollen die Neuerungen keine Farce werden, müssen die Zuchtverbände und Hengstaufzüchter neu denken.
Hier sehe ich die Zuchtverbände und das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft in der Pflicht, Geld für die Forschung in die Hand zu nehmen. Die Verbände sind es, die auch zukünftig Zuchthengste in ihre Hengstbücher eintragen wollen und die auch davon finanziell leben und in den letzten Jahren, in Verbindung mit den Auktionen, sehr gut davon gelebt haben.
Die erfahrene Forschungsgruppe Equiden von Agroscope (siehe Block 12 „Avanches“, der Schweizer Regierung, wäre ein sinnvoller Ansprechpartner.)
Und wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass eine entsprechende Hengstaufzucht mit 250 Euro im Monat nicht zu finanzieren ist. Hier muss deutlich mehr Geld von den Hengstbesitzern in die Hand genommen werden. Aber auch hier müssen Konzepte her, sonst werden alle derzeitigen Ambitionen bezüglich „pferdegerechter“- Hengstaufzucht und Körungsvorbereitung im Sande verlaufen. Wieder einmal – vielleicht von den Verantwortlichen auch gewollt, in der Hoffnung, dass die Pferdewelt das Thema bald wieder vergessen hat.
Entscheidung: Körung um jeden Preis? Escobar im Juni 2022 (26 Monate)