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21  ECVM – Unser Hauptproblem in der Warmblutzucht?

Versuchen wir es mal mit den Worten des Lehrers Bömmel:

„Heute haben wir ECVM. Wat is’n ECVM? Da stellen wir uns mal janz dumm und sagen ECVM dat ist ene Halswirbelsäule, de hat vorn e Kopp un hinten e Pferd. Hinten is der Motor un vorn dat Gehirn.“

Aber ganz so lustig, wir der Lehrer Bömmel die Dampfmaschine in der Feuerzangenbowle erklärt hat, ist ECVM nicht. Aber für den Laien vielleicht mindestens genauso kompliziert. ECVM, oder die Equine cervical vertebral malformation, sind angeborene Fehlbildungen an den unteren Halswirbeln und ersten Brustwirbeln/ Rippen des Pferdes. Die Folgen dieser Fehlbildungen sind allerdings wesentlich komplexer und schwerer zu verstehen, als die Funktionsabläufe einer Dampfmaschine.

Die Halswirbelsäule

Verläuft  beim Pferd mit sieben Halswirbeln (C1 – C7) vom Genick kommend am unteren Bereich des Halses. Der siebte Halswirbel verschwindet schon fast im Bereich der Schulter, ist also für den Laien nur noch schwer zu ertasten.

Zwischen den jeweils vorderen Wirbelkörpern und den nachfolgenden Wirbelkörpern werden die sogenannten Foraminae intervertebrale gebildet. Dies sind Freiräume durch die die Spinalnerven des Rückenmarks hindurchtreten und die umliegenden Areale mit Nerven versorgen.

Die Halswirbel sind durch zwei Arten von Gelenken miteinander verbunden: Zum einen die echten Facettengelenke, welche sogenannte Schiebegelenke mit weiten Gelenkkapseln sind und die Gleitbewegungen zulassen. Und zum anderen die großen Verbindungen der Wirbel, diese werden als sogenannte unechte Gelenke (Symphisis intervertebrales) bezeichnet, da sie nicht von einer Gelenkkapsel umschlossen sind. Zwischen diesen Knochenverbindungen liegen knorpelige  Zwischenwirbelscheiben. Oberhalb dieser Verbindungen der Wirbelkörper verläuft das Rückenmark im Rückenmarkkanal.

Beweglicher Hals und starrer Brustpfeiler

Zwischen dem 7. Halswirbel und dem erstem Brustwirbel wird die gelenkige Verbindung straffer und ist nicht mehr ganz so beweglich. Die nun folgende starre Konstruktion der Brust, mit Brustbein und Rippenbögen wirken gegenüber der beweglichen Halswirbelsäule wie ein Pfeiler. Stark ausgebildete, bzw. forciert kräftige Halsmuskeln wirken über die Länge des Halses wie ein Hebel und erzeugen große Druckkräfte vor allem auf den Hals-Brustübergang im Bereich des 6. und 7. Halswirbels.

Nacken-Rückenband, Wideristkappe und der Muskel longus colli

Am oberen Halsrand zieht vom Genick kommend das paarige Genick- Nackenband (Lig. nuchae), welches zu den oberen Dornrändern des 2. – 5. Halswirbel noch haltende Bandstränge abgibt und als Wideristkappe und Rückenband weiterverläuft. Ausgerechnet zum 6. und 7. Halswirbel gibt es diese Bandunterstützung vom oberen Halsrand kommend in der modernen Pferdezucht nicht mehr. Dazu kommen die Varianten am Unterrand der Wirbelkörper des 6. und 7. Halswirbels die bei unseren Warmblütern unterschiedliche Ansätze des Muskels longus colli aufweisen.

Hals-Brustübergang und das Nervengeflecht des Plexus brachialis

Gerade in diesem Übergang zwischen Hals, 5.-7. Halswirbel und Brust 1.-3. Brustwirbel und zwischen den ersten Rippen  (=cervicothorakaler Übergang) treten durch die Foramina die Spinalnerven heraus, die auf jeder Innenseite der Vordergliedmaßen die großen Nervengeflechte des Plexus brachialis bilden.

Rot und blau gekennzeichnet sind Arterien und Venen (Blutgefäße).

Die weißen Strukturen stellen das Nervengeflecht des Plexus brachialis dar.

Übrigens auch an der Hinterhand bilden die Nerven der Spinalnerven, die im Bereich der letzten Lendenwirbel und des Kreuzdarmbeins zur gleichseitigen Hintergliedmaße austreten, beidseitig ein großes Nervengeflecht den sogenannten Plexus lumbosacralis.

ECVM – Worum geht‘s?

Um das nachvollziehbar erklären zu können, muss man sich die Anatomie des 6. Halswirbels und die des Muskel longus colli anschauen:

Im Röntgenbild sieht das dann so aus:

ECVM und das ventrale Tuberkel (CVT) am 6. Halswirbel

Normalerweise setzen an diesen ventralen Tuberkel des 6. Halswirbels Teile des Muskels longus colli an. Dieser kräftige Muskelstrang verläuft vom Brustbein kommend an der Unterseite der Halswirbel in kurzen rechten und linken Teilen immer ein, oder zwei Halswirbel übergreifend bis zu den oberen Halswirbeln, wobei die rechten und linken Muskelstränge immer schwächer werden. Er gehört zu den Abwärtsbiegern der Halswirbelsäule und er stabilisiert, neben vielen anderen Muskeln auch den fragilen Übergang zwischen beweglicher Halswirbelsäule und dem starren Brustkorb.

Leider habe ich nur ein wirklich gutes Bild gefunden und das ist aus dem Lehrbuch der Anatomie der Haustiere (Nickel, Schumer, Seiferle) 4. Auflage von 1977 und es ist auch noch dazu vom Hund! Ansonsten sind die Abbildungen dieses Muskels zur Zeit in den Anatomie Büchern nicht vorhanden, was sich angesichts der ECVM-Problematik in den nächsten Jahren sicher ändern wird.

Physiologischer Verlauf M. longus colli (der Hund liegt auf dem Rücken und man schaut sozusagen auf seinen Unterhals):

Nun weiß man inzwischen, dass die hinteren ventralen Tuberkel (CVT) am 6. Halswirbel einseitig oder beidseitig fehlen können. Sogenannte Abstinenz des CVT (aCVT). Dann gibt es in der Entwicklung des Fetus in der Gebärmutter für den M. longus colli nur zwei Möglichkeiten (Transposition):

  • die Muskelstränge setzen nun nicht am hinteren Rand des C6 an, sondern weiter vorne, am vorderen unteren Tuberkel des C6
  • die Muskelstränge setzen nun gar nicht mehr am C6 an, sondern nur am 7. Halswirbel (C7) an.

Bei einseitiger Veränderung, ergibt dies eine deutliche Asymmetrie in der Länge, im Querschnitt und damit auch in der Kraft der einzelnen Muskelstränge. Bei beidseitig gleicher Veränderung, werden die Wirbel in ihrer horizontalen und vertikalen Stellung falsch ausgerichtet. Der Musculus longus colli spielt eine Rolle im Rahmen der Haltung und in der Bewegung und geben dabei dem fragilen Übergang Hals-Brustkorb eine gewisse Stabilität. Unphysiologische Verläufe des Muskels führen zu mechanischen Fehlbelastungen vor allem der Facettengelenke, aber auch der unechten Gelenkverbindungen und natürlich aller anderen Strukturen, bis hin zum Rückenmark.

(Hier im Vergleich ein Röntgenbild des C 6, eines 2 jähriges Pferdes mit klinischer Ataxie und Schmerzen im Bereich der unteren Halswirbelsäule. )

Nun sind im Rahmen des ECVM (Equine cervical vertebral malformation), nicht nur alleine die anatomischen Abweichungen und ihre Folgen am 6. Halswirbel gemeint, weswegen einige Autoren auch zu Recht schon von Equine complex vertebral malformation sprechen. Denn es kommt noch schlimmer:

Bei neueren Untersuchungen in der Pathologie trat auch zu Tage, dass eine ganze Anzahl klinisch betroffener Pferde zudem auch Veränderungen im Bereich der ersten und zweiten Rippe aufwiesen. Zum Teil sind diese schwächer ausgeprägt, oder die erste Rippe fehlt in Gänze, so dass auch hier anatomische Abweichungen ein-, oder beidseitig symmetrisch/ bzw. asymmetrische vorliegen können. Hier tritt aber vor und über die erste Rippe das Nervengeflecht – der Plexus brachialis in die jeweilige Schultergliedmaße ein.

Plexus brachialis beim Pferd

Dies ist rechts und links jeweils ein Geflecht aus den unteren Spinalnerven der letzten Hals- und der ersten Brustwirbel. Die Spinalnerven vereinigen sich zu drei Hauptstämmen und anschließend zu mehreren untereinander verbundenen Einzelsträngen. Diese Stränge verlaufen nun entlang großer Arterien und Venen in die Achselgegend (innen vom Ellbogengelenk des Pferdes). Aus diesen Strängen entspringen wiederum Nervenfasern, die durch die Faserdurchmischung, im Nervengeflecht des Plexus brachialis, immer Anteile von mehreren (2-3) Spinalnerven besitzen.

Diese Nerven innervieren die gesamte vordere Gliedmaße, sowie Teile der Brustwand.

Schädigungen und Quetschungen, mit schmerzhaften Zuständen (Neuralgien), der Nerven des Plexus brachialis werden als Brachialgie zusammengefasst. Aber versucht ein Pferd ständig einem Schmerz auszuweichen, kommt es immer zu Fehlbelastungen an anderen Stellen und damit zu jeder Art von Erkrankungen, auch psychischer Natur, bis hin zu Arthrosen in allen denkbaren Gelenken.

Klinisches Bild der ECVM

Die Symptome, die die Pferde zeigen sind so vielschichtig, wie die oben beschriebenen, möglichen anatomischen Veränderungen.

Ungerittene Jungpferde in der Aufzucht

  • Pferde die bereits in der Aufzucht Koordinations-/ Balancestörungen und Ataxien (mangelnde Stabilisierung in der Hinterhand) zeigen.

Jungpferde beim Anreiten

  • Widersätzlichkeiten beim Satteln, Angstzustände bereits bei geringen Arbeitsanforderungen ohne Reiter an der Longe, beim Ausbinden u.ä.
  • Fühlbare Instabilität unter dem Reiter, mehr als es normal junge Pferde zeigen, extreme Unsicherheiten in der Balance
  • Hyperflexibilität im Hals mit unphysiologischen Reaktionen, oder extreme Steifheit/ Widersetzlichkeiten
  •  Massives Überspringen beim Freispringen, ohne dass diese Pferde gebarrt worden sind, teilweise mit unphysiologisch unterschiedlicher Vorderbeintechnik – diese Pferde wissen neurologisch nicht sicher wo sich ihre Vorderbeine im Raum befinden und überspringen sich reglemäßig extrem, oder zeigen zunehmend Angst beim Freispringen, weil beim Landen Schmerzen auftreten
  • Stolpern bis hin zum Sturz
  • Wechselnde Lahmheiten (Hang- u./o. Stützbeinlahmheiten) in den Vordergliedmaßen/aus den Schultern oder der unteren Halswirbelsäule kommend

Ältere Pferde

  • Stolpern bis hin zum Sturz
  • Unphysiologische Sprungtechnik, bzw. Stürze beim/ nach dem Landen
  • Schwierigkeiten mit Takt, Losgelassenheit, Anlehnung
  • Stabilitätsprobleme vor allem in der seitlichen Stellung, Biegung deutlich Seitenunterschiede rechts/links
  • Mangelnder Vorwärtsdrang/ triebig, Unlust
  • Erkennbare Schmerzmimik
  • Angst

ECVM – Unser Hauptproblem in der Warmblutzucht?

Ich glaube Nein. Ich glaube unser Hauptproblem liegt darin begründet, dass wir unsere alten Werte verraten haben. Wir achten nicht mehr auf einen ausreichend großen Genpool in unserer Warmblutzucht. Wenn die Aussage von Ottmar Distel stimmt: Zitat „Es werden in unserer heutigen Warmblutzucht nur noch ca. 5 % der gekörten und leistungsgeprüften Hengste zum Deckeinsatz nachgefragt.“ Zitat Ende

Wenn diese Zahl auch nur annähernd stimmt, dann haben wir schon verloren. Inzucht ist schon vor Jahrhunderten in den großen Fürstenhäusern schief gegangen.

Wenn wir nicht mehr verstehen, dass ein solides Fundament, ein gesunder stabiler Körperbau, mit drei gleichwertig guten Grundgangarten, Gesundheit und Interieur mit mehrfachen Veranlagungen einen guten Deckhengst ausmachen.

Wenn wir nicht mehr verstehen, dass die Mutterlinien über 60 % zur Leistungsfähigkeit der Nachzucht beitragen und auch die Mutterstuten gesund und leistungsgeprüft sein müssen.

Wenn wir nicht mehr verstehen, dass nur eine gesunde Aufzucht in sozialisierten Gruppen, unter Einbeziehung verschiedener Böden über die gesamte Aufzuchtzeit und eine gut balancierte Fütterung, gesunde Pferde hervorbringen kann.

Wenn wir nicht mehr verstehen, dass junge Pferde Zeit brauchen und wir nicht damit aufhören, sinnlos die 2 und 3 jährigen Pferde Belastungen auszusetzen, denen sie physisch und psychisch nicht gewachsen sind. Wenn wir die Pferde so früh aufrichten, ohne dass diese ausreichend Balance und Kraft entwickeln konnten und ohne dass sie Zeit hatten die zur Tragkraft notwendige Mukulatur auszubilden, leiden Muskeln, Bänder, Gelenke und schließlich das Pferd in einem unfassbaren Ausmaß.

Wenn wir all das alte Wissen nicht mehr wissen wollen, dann hat unsere Warmblutzucht in ihrer Gesamtheit verloren.

Wissenschaft, ist das was Wissen schafft, aber wozu brauchen wir dann noch neues Wissen und Forschung zu ECVM und anderen Defekten?

Können Pferde sich langweilen? (Escobar Winter 3-4 jährig) Klick hier